Im Interview mit Prof. Dr. Florian Lüdeke-Freund, ESCP Business School Berlin, Lehrstuhl für unternehmerische Nachhaltigkeit
Digitale Technologien sind in der heutigen Wirtschaftswelt nicht mehr wegzudenken. Warum spielen sie auch in Bezug auf das Thema Nachhaltigkeit und das Erreichen von Nachhaltigkeitszielen in Unternehmen eine immer größere Rolle?
Ich muss vorwegschicken, dass ich kein echter Technologie- oder Digitalisierungsexperte im engeren Sinn bin, sondern aus der Sicht des betrieblichen Nachhaltigkeitsmanagements sowie des nachhaltigen Unternehmertums auf das Thema Digitalisierung schaue. In Gesprächen mit unseren Unternehmens- und Forschungspartnern sowie im Rahmen von Studien stoße ich jedoch auf viele und oft wiederkehrende Ansatzpunkte.
Die offensichtlichen Ansatzpunkte betreffen das Management von Nachhaltigkeitsdaten mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI). Unternehmen sehen sich aufgrund veränderter Kundenbedürfnisse, Erwartungen von Unternehmenspartnern sowie regulatorischer Anforderungen mit der Herausforderung konfrontiert, große Datenmengen zu vielfältigen betrieblichen Aspekten zu beschaffen, zu analysieren und darüber zu berichten (z.B. Emissionen entlang des Produktlebenszyklus, soziale Themen in globalen Lieferketten etc.). KI-basierte Sprachmodelle können dabei helfen, die entsprechenden Daten zu verarbeiten und für die Kommunikation und das Reporting aufzubereiten. Weitere Zwecke sind z.B. die Entwicklung von Verbrauchs- oder Emissionsszenarien oder auch die strategische Planung.
Ein zweiter, häufig genannter Ansatzpunkt betrifft die Digitalisierung und damit die teilweise Dematerialisierung betrieblicher Aspekte. Beispiele hierfür sind die Reduktion der physischen Infrastruktur vor Ort (z.B. Auslagerung von Servern durch Cloud-Computing), die Hinwendung zu digital unterstützten Serviceangeboten (z.B. digital unterstützte Plattformen und Mietservices für Haushaltsgeräte, z.B. Bundles), oder die Delokalisierung und Flexibilisierung der Arbeitsorganisation (z.B. durch Homeoffice und virtuelle Arbeitsräume).
Neben diesen häufig diskutierten Ansatzpunkten gibt es aber noch viele weitere. Ich werde später auf drei ausgewählte Bereiche eingehen, die nicht weniger dynamisch und wichtig sind, aber vielleicht nicht ganz so viel Beachtung im Kontext der Erreichung unternehmerischer Nachhaltigkeitsziele finden. Dies sind die Bereiche Educational Technology (EdTech), Innovationsmanagement und Digital Literacy.
Welche Herausforderungen sind noch zu meistern, damit sich das Potenzial dieser Technologien für die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele von Unternehmen voll nutzen lässt?
Mit Blick auf das Management von Nachhaltigkeitsdaten zeigt sich in Gesprächen mit Technologieentwicklern und Nutzern sehr häufig, dass es hier noch einige Hürden gibt. Beispiele sind unzureichend integrierte Datensysteme und Fragen der Prüfung und Validierung der Daten im Rahmen des Jahresabschlusses. Die Rückmeldungen aus der Praxis zeigen, dass i.d.R. noch ein hoher Anteil manueller Arbeit erforderlich ist, um das Management von Nachhaltigkeitsdaten zu optimieren. Häufig fehlt es schlichtweg an Daten, Harmonisierung und Schnittstellen, sodass der Automatisierung klare Grenzen gesetzt sind. Unternehmen wie WeShyft arbeiten an der Verbesserung der gegenwärtigen Ansätze, z.B. mithilfe von Retrieval Augmented Generation (RAG), bei der es um Sprachmodelle geht, die u.a. auf Basis unternehmensindividueller Daten arbeiten. Bezüglich der Überprüfbarkeit der Nachhaltigkeitsdaten und der resultierenden Jahresberichte gibt es ebenfalls viele Herausforderungen, die z.B. das Verständnis für die genutzten Modelle, Algorithmen und Trainingsdaten, den Mangel an Nachvollziehbarkeit und Transparenz sowie Fragen der Datenqualität und Verzerrungen betreffen.
Schauen wir auf das Thema Dematerialisierung durch Digitalisierung als Hebel für eine hohe ökonomische und ökologische Effizienz, so werden häufig große Erwartungen im Sinne einer Steigerung der ökologisch-ökonomischen Effizienz – die sogenannte Ökoeffizienz – geäußert. Ideen wie dematerialisierte Infrastrukturen, der Ersatz von Produkten durch Services oder die Virtualisierung von Produktions-, Distributions- und Verkaufsprozessen sind Evergreens im Diskurs zum grünen Wirtschaften. Ähnliches findet sich zunehmend auch im Kontext der Kreislaufwirtschaft. Bisher mangelt es jedoch an Belegen dafür, dass gesamtwirtschaftliche Entkopplungseffekte erzielt werden können, die darüber hinausgehen, dass einzelne Unternehmen effizienter werden oder ihren Energiebezug umstellen. Die Ressourcennutzung konnte bisher kaum vom Wirtschaftswachstum entkoppelt werden. Und die Kreislaufwirtschaft scheint auch noch in ferner Zukunft zu liegen, da die The Circularity Gap Report 2023 insgesamt bisher kaum zirkulär sind.
Beide Beispiele verdeutlichen zwei Dinge. Zum einen bieten digitale Technologien neue Möglichkeiten, um mit Nachhaltigkeitsdaten und neuen Methoden des Wirtschaftens Fortschritte zu machen. Diese Fortschritte werden aber nur dann weitreichend sein, wenn auch der nicht-technologische Bereich – wir können auch sagen: der Faktor Mensch – als unabdingbare Voraussetzung für das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele von Unternehmen begriffen wird. Dies betrifft z.B. das Wissen über grundlegende Zusammenhänge zwischen Betriebswirtschaft und Nachhaltigkeit, die Befähigung zur Nutzung digitaler Technologien und die Bedeutung der menschlichen Kreativität im Umgang mit diesen Technologien.
Welche Unternehmensbereiche sind für einen Einsatz besonders geeignet und können Unternehmen Mehrwert bieten?
Es ist sicherlich en vogue, vor allem über Ansätze wie KI in der Datenanalyse (z.B. für das Reporting), Cloud-Computing (z.B. für das Outsourcing), Blockchain-Technologie (z.B. für die Rückverfolgbarkeit in der Lieferkette), dem Internet der Dinge (z.B. für die Steuerung der Ressourcennutzung), digitale Plattformen (z.B. zur Steigerung der Zirkularität) und vielen mehr zu sprechen. Und ja, diese und weitere digitale Technologien sind an- und vielversprechend. Jedoch nehme ich den Diskurs durchaus auch so wahr, dass sie als rein technologische Ansätze diskutiert werden, bei denen weiche Faktoren und der Mensch irgendwie nicht wirklich mitgedacht werden. Am Ende sind es Menschen, die Daten validieren, Zusammenhänge zwischen Betriebswirtschaf und Nachhaltigkeit verstehen und brauchbare von unbrauchbaren Informationen oder sogar Fake News unterscheiden müssen.
Aus der Überlegung, dass der Faktor Mensch bei der Nutzung digitaler Technologien zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele von Unternehmen unbedingt mitgedacht werden muss, ergibt sich m.E. auch, welche Bereiche vielversprechende Ansatzpunkte bieten könnten. Hierzu gehören Bereiche wie die betriebliche Aus- und Weiterbildung, das Innovationsmanagement sowie die grundlegenden digitalen Fähigkeiten der Mitarbeitenden im Sinne einer Digital Literacy, zu der heutzutage auch der souveräne Umgang mit der täglich steigenden Flut and digitalen Informationen und Falschmeldungen gehören sollte.
Welche konkreten Beispiele gibt es für den Bereich der betrieblichen Aus- und Weiterbildung?
Die betriebliche Aus- und Weiterbildung bzgl. der Zusammenhänge zwischen Betriebswirtschaf und Nachhaltigkeit kann heutzutage sehr flexibel, relativ zeit- und kosteneffizient und auch hochgradig unternehmensspezifisch angeboten werden. Das Stichwort hierbei ist Educational Technology (EdTech): „EdTech und bezeichnet den Einsatz digitaler Technologien zur Unterstützung und Verbesserung von Bildungsprozessen. Es umfasst eine Vielzahl von Tools, Plattformen und Anwendungen, die das Lehren und Lernen effizienter, interaktiver und zugänglicher gestalten sollen. EdTech kann dabei in unterschiedlichen Kontexten zum Einsatz kommen, z. B. in Schulen, Universitäten, Weiterbildungsmaßnahmen oder der beruflichen Aus- und Fortbildung.“ Die hier zitierte Definition ist ein Beispiel dafür, wie Tools wie ChatGPT hierbei helfen können (die Frage an ChatGPT 4o war: „Wofür steht EdTech?“).
Zum Beispiel haben Studierende der ESCP Business School im Rahmen eines Beratungsprojekts für ein Unternehmen einen einfachen GPT entwickelt, der Fragen zum Thema regeneratives Wirtschaften beantworten kann. Unternehmen könnten im Rahmen ihrer betrieblichen Aus- und Weiterbildung von diesen und ähnlichen Ansätzen Gebrauch machen. Hierbei können Ansätze wie die bereits genannte RAG ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Hinzu kommen weitere Tools wie Online-Lernplattformen (z.B. Coursera), Lernmanagementsysteme (z.B. Moodle), E-Learning-Apps (z.B. Quiz-Apps und interaktive Whiteboards), immersive Lernerfahrungen (z.B. durch virtuelle Realität) und KI zur individuellen Anpassung von Lerninhalten. An der ESCP Business School machen wir z.B. gute Erfahrungen mit der Nutzung von Massive Open Online Courses (MOOCs), z.B. zu nachhaltigen Geschäftsmodellen, sowie mit dem Aufbau digital skalierbarer Lerneinheiten auf der Plattform Thinkific, z.B. zum Thema nachhaltiger Einkauf.
Welche Hebel gibt es im Bereich des Innovationsmanagements?
Ich betone das Innovationsmanagement an dieser Stelle aus dem folgenden Grund. Es muss bedacht werden, dass die betriebliche Aus- und Weiterbildung allein noch kein Garant für das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele von Unternehmen ist. Wissen muss in Handeln übersetzt werden können. Und hier nimmt das Innovationsmanagement eine wichtige Rolle ein. Denn die Frage ist, ob Erfolge wie z.B. die Reduktion von betrieblichen Treibhausgasemissionen entweder durch operative Verbesserungen im eigenen Kerngeschäft erzielt werden (z.B. messbar weniger Ressourcen je produzierter Einheit) oder eher durch ausgelagerte Maßnahmen wie Veränderungen im Energiemix des Versorgers oder Ausgleichsmaßnahmen wie zertifizierte Aufforstungsprojekte im Ausland.
Nur die oft deutlich aufwändigeren Ansätze wie die Verbesserung der eigenen Produktionsprozesse und Produkte wird zu langfristigen Erfolgen im Sinne positiver ökologischer und sozialer Wertschöpfung führen. Diese Ansätze erfordern sehr häufig ein Umdenken, Mut und viel Kreativität wie wir im Rahmen einer Studie zusammen mit der Bertelsmann Stiftung gezeigt haben. Unsere Erhebung und zusätzliche Fallstudien zeigen, dass v.a. die Geschäftsführung, die Mitarbeitenden und auch die Kund/innen eine zentrale Rolle als Treiber der erforderlichen Verbesserungen einnehmen. Diese Stakeholder und ihre Beiträge zum Innovationsmanagement von Unternehmen sollten daher im Rahmen der Digitalisierungsbemühungen von Unternehmen explizit berücksichtigt werden.
Dies kann mitunter sehr fundamentale Themen betreffen. Zum Beispiel die Frage, wofür ein Unternehmen eigentlich steht. Ein bemerkenswertes Beispiel ist der „Innovation Jam“, den das US-amerikanische Unternehmen IBM bereits im Jahr 2001 mithilfe digitaler Plattformen durchgeführt hat und der etwas später zum „Values Jam“ wurde. IBM hat eigens hierfür entwickelte Plattformen im eigenen Intranet genutzt, um den mehr als 300.000 Mitarbeitenden die Möglichkeit zu geben, am „Values Jam“ teilzunehmen und neue Kernwerte für das Unternehmen zu formulieren – nach mehr als 100 Jahren Firmengeschichte. IBM zeigt, dass digitale Innovationen durchaus genutzt werden können, um weiche Faktoren wie die Werte eines Unternehmens innovativ weiterzuentwickeln. Bestenfalls liegen die Unternehmenswerte und die unternehmerischen Nachhaltigkeitsziele nicht weit auseinander.
Unterhalb der normativen Ebene finden sich natürlich viele weitere Ansätze, wie z.B. nachhaltige Geschäftsmodellinnovationen, die ebenfalls digital unterstützt vorangetrieben werden können. Und dies auf zweifache Weise. Zum einen können digitale Tools wie der „Smart Business Model Canvas“ von Venturely oder der „Sustainable Business Model Canvas“ des Borderstep Instituts den Entwicklungsprozess neuer und nachhaltiger Geschäftsmodelle digital unterstützen. Zum anderen können digitale Aspekte wie virtuelle Plattformen, virtuelle Realität u.v.m. selbst zu Bestandteilen nachhaltiger Geschäftsmodelle werden.
Was lässt sich abschließend zum Thema Digital Literacy sagen?
Ich würde den Begriff sogar zu einer Digital Sustainability Literacy erweitern. Wir können uns diesem Thema z.B. über das „Framework for 21st Century Learning“ annähern. Es betont, dass Digital Literacy weit mehr ist als nur technisches Know-how, weil es auch darum geht, Informationen kritisch zu bewerten, digitale Tools effektiv zu nutzen und kreative Lösungen für Probleme zu finden. Die Fähigkeit zur globalen Zusammenarbeit und ein verantwortungsvoller Umgang mit ethischen und rechtlichen Aspekten im digitalen Raum werden ebenfalls betont. Aufgrund der Bedeutung von Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritischem Denken wird das Framework auch häufig als 4K-Modell des Lernens bezeichnet.
Für die Schnittstellen zwischen Betriebswirtschaft und Nachhaltigkeit sind alle vier Kompetenzen zweifellos dringend erforderlich, sei es beim Management von Nachhaltigkeitsdaten, der Einführung von Digitalservices zur Dematerialisierung, der Nutzung von EdTech-Tools oder der Durchführung digital unterstützter Innovationsprojekte. Ich möchte jedoch kurz die Bedeutung des kritischen Denkens im Umgang mit Nachhaltigkeitsthemen hervorheben.
Denn oft sehen sich Unternehmensverantwortliche und auch Mitarbeitende mit vermeintlichen Widersprüchen oder Spannungen zwischen Unternehmens- und Nachhaltigkeitszielen konfrontiert, die oft auf die Frage verkürzt werden, ob es sich den überhaupt lohne, nachhaltiger zu wirtschaften. Oft hört man ja, Nachhaltigkeit sei teuer. Hinzu kommen Scheinargumente wie: „Solange sich die chinesische Wirtschaft nicht umstellt, sind Anstrengungen in Deutschland wirkungslos und kosten uns die Wettbewerbsfähigkeit.“ Hier muss kritisches Denken in Unternehmen gefördert werden, z.B. im Rahmen von EdTech-basierten Kampagnen und digital unterstützten Innovationsprojekten.
Die Befürchtung, dass Nachhaltigkeit nur koste, kann z.B. durch den Verweis auf zahlreiche positive Effekte genommen werden (siehe hierzu auch die Studie zusammen mit der Bertelsmann Stiftung). Zum Beispiel können Unternehmen durch nachhaltigeres Wirtschaften die Zufriedenheit und Bindung der Mitarbeitenden steigern, Zugang zu nachhaltigen Finanzierungen und Subventionen erhalten, Risiken minimieren, Marktvorteile und Kundenloyalität sichern, Ressourcen- und Abfallkosten reduzieren etc.
Ähnlich kann dem häufig gehörten „China-Argument“ begegnet werden. Durch globale Abkommen (z.B. dem Pariser Klimaabkommen) kann Druck auf andere Staaten erzeugt werden, was wiederum eine Vorbildfunktion auf Seiten führender Industrienationen erfordert. Die Unabhängigkeit z.B. von bestimmten Rohstofflieferanten und von fossilen Brennstoffen ist ebenfalls ein Grund, als Unternehmen und Industrienation nachhaltiger zu wirtschaften. Wettbewerbsvorteile durch grüne und soziale Innovationen können die Positionierung deutscher Unternehmen stärken etc.
Insgesamt sehen wir, dass digitale Technologien eine enorme Bandbreite an Ansätzen bieten, um mit Daten umzugehen, das Wirtschaften effizienter zu machen und die Aus- und Weiterbildung sowie das Innovationsmanagement zu stärken. Zugleich müssen wir aber auch den Faktor Mensch und die Vermittlung wesentlicher Kompetenzen im Sinne einer Digital Sustainability Literacy betonen und über die bloße Technologie stellen.
Links mit Quellenverweisen:
- Externe Websites von: Bundles & WeShyft
- Beitrag: Fraunhofer Institut IESE – Retrieval Augmented Generation (RAG) Entkopplungseffekte
- Beitrag: Materialströme der Wirtschaft
- Beitrag: Digital Literacy
- Beitrag zum Umgang mit der täglich steigenden Flut an digitalen Informationen und Falschmeldungen
- Beitrag: Nachhaltige Geschäftsmodelle
- Beitrag: Nachhaltiger Einkauf
- Beitrag: Axa Climate
- Studie der Bertelsmann Stiftung
- Beitrag: „Innovation Jam“
- Beitrag: Werte eines Unternehmens innovativ weiterzuentwickeln
- Website: Venturely
- Tools: Start-green Business Canvas
- Beitrag: 4K-Modell des Lernens
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